Stellungnahme und Empfehlungen der „Kommission zu den Kanzlerdebatten“

Kommission zu den Kanzlerdebatten
19. September 2002

Das „TV-Duell“ der beiden aussichtsreichsten Kandidaten um das Kanzleramt ahmt ein seit 1976 verankertes Format aus dem US-Fernsehen nach, wobei diese Form politischer Kommunikation einem von der hiesigen Parteiendemokratie abweichenden Präsidialsystem, einem anderen medienhistorischen Kontext (Dominanz des kommerziellen TV) und einem anderen Verständnis von Öffentlichkeit und Demokratie entnommen ist. Somit richtet das TV-Duell die Aufmerksamkeit des breiten Publikums auch in Deutschland auf das Modell eines „Präsidialkanzlers“, der Legitimation wesentlich aus medialer Präsenz und Überzeugungskraft bezieht. Damit wird ein Unterschied zwischen Verfassungswirklichkeit und medialer Realität deutlich.

Da es sich um ein importiertes Format handelte, noch dazu in den angespannten Zeiten des Wahlkampfs, ergaben sich gravierende Unsicherheiten bei der Implementierung und Ausgestaltung der beiden TV-Duelle. Besonders beim ersten Teil des Duell, ausgestrahlt von RTL und SAT.1, war ein Verlust journalistischer Autonomie bei der Formatkonstruktion zu konstatieren, da die Sende-Verantwortlichen die Regeln wie die Rahmenbedingungen des Streitgesprächs wesentlich von den Medienberatern und „spin doctors“ der Kandidaten sowie den Generalsekretären der Parteien hatten bestimmen lassen. So wirkten die Aspiranten auf das Kanzleramt auf dem Bildschirm wie Probanden einer Quiz-Show (im Weltraum). Das Korsett eines bis in die Details austarierten Diskurses lähmte die politischen Hauptdarsteller selbst, womit auch die Kandidaten in die Falle der Beraterkaste gegangen waren. Im zweiten Teil des Duells bei ARD und ZDF wurde dieser Lähmungszustand – wenn auch nur partiell – gelockert; das Duell erschien stärker als politisches Fernsehforum auf professionellem Normalniveau, mit deutlich motivierteren und zum Diskurs aufgelegten Moderatorinnen.

Die Anlage des TV-Duells betont naturgemäß die unterschiedlichen Standpunkte der Kandidaten stärker als politische Gemeinsamkeiten. Sicht Sichtweise von Amtsinhaber und Herausforderer auf innen- und außenpolitische Kernprobleme ist verblüffend kongruent, die journalistische Methode beim TV-Duell aber darauf ausgerichtet, die Kandidaten zu konträren Aussagen etwa über Steuer- und Rentensystem, Außen- und Sicherheitspolitik oder politische Personalfragen zu bewegen, um dem Publikum die zur Wahl stehende Alternative deutlich zu machen. Darüber hinausweisende Fragestellungen, etwa nach der Zukunft des Wachstumskapitalismus oder nach dem Selbstbezug und Realitätsverlust gesellschaftlicher Eliten, müssen zwangsläufig zurücktreten; die Form des Duells unterstützt damit die Wahrnehmung von politischen Pseudo-Differenzen.

Das Format des TV-Duells fördert zweifellos die Breitenwahrnehmung von Politik, die formale Kommunikation über politisches Handeln, und das „Bewertungsspiel“ um rhetorische Fähigkeiten, Sympathiepotential und Authentizität der Kandidaten für das Kanzleramt. Die Duelle lassen sich dabei kaum in die Rubrik „Politainment“ einordnen: Sie wurden von breiten Publikumsschichten, nicht zuletzt aufgrund der besonderen Rahmenbedingungen als langatmig, konventionell und wattiert empfunden. Es handelte sich fast durchgehend um staatstragende Verständigung, polemische oder enragierte Kommunikation blieb vollständig aus. Im Vergleich zu den Fernseh-Streitgesprächen der 70er und 80er Jahren („Bonner Runde“) mit Politikern wie Strauß, Brandt, Kohl etc. bot das Format eher eine Abkühlung der politischen Debatte.

Rund um die TV-Duelle („Countdown“, „Wer hat gewonnen?“) haben die veranstaltenden Sender bis zur Lächerlichkeit eine selbstbezügliche Expertenkultur aufgebaut, mit der die Bedeutung der Veranstaltung unterstrichen werden sollte. Die Redundanzen in den bewertenden Aussagen der „Experten“ – von Starfriseuren bis zu Altpolitikern – zeigen die Probleme einer bloß formalen Kommunikationskultur auf, die das TV-Ereignis als „Event“ feiert, und damit – bei einem an sich durchaus interessanten Fernseh-Erlebnis – die Ermüdung und den Widerwillen politisch interessierter Schichten fördert. Die publizistische Kraft der Sender-Verantwortlichen sollte stärker darauf konzentriert werden, den Kandidaten Fragen mit der gebotenen Präzision zu stellen, das Format zudem spannender und lebendiger zu gestalten, anstatt ein geschlossenes Selbstbewertungssystem zu etablieren, das ganz auf die vorsorgliche Risikobegrenzung und die nachsorgende Schadensbegrenzung durch Professionelle setzt.

Sender und Wahlkampfzentralen taten freilich so, als seien TV-Duelle ihr Eigentum. Deswegen war die Art der Durchführung zu stark an den vermeintlichen Anforderungen des Mediums Fernsehen und an den Konventionen der Wahlkampfführung orientiert. Die Kriterien der Diskussion ergaben sich weniger aus den Notwendigkeiten der politischen Willensbildung, und die Fragestellungen bildeten meist nur das bereits in der Presse durchgearbeitete, jeweils „tagesaktuelle“ Themenspektrum des Wahlkampfes ab. Grundsätzliches und Ausgeklammertes jenseits des üblichen Parteienstreits sowie Überlegungen zu gesellschaftlichen Weichenstellungen für die Zukunft blieben marginal. So wurde in letzter Konsequenz vor allem die Fernsehtauglichkeit der Kandidaten getestet, wogegen die Aussagekraft über die Regierungsfähigkeit des kandidierenden Spitzenpersonals zurücktrat. Auch beim „TV-Duell“ droht also die Form die Inhalte zu erdrücken. Hier zeigt sich, dass die Fernsehdemokratie nicht einfach “Demokratie plus Fernsehen” ist, sondern anderen Funktionsgesetzen und zeitlichen Rhythmen unterliegt als das herkömmliche politische System. In der Mediendemokratie sind Anforderungen, die auf Personalisierung, telegenes Auftreten, permanenten Neuigkeitswert, demonstrierte Entschlusskraft und rhetorische Anschlussfähigkeit an die Massenpresse zielen, nicht einfach Zusätze zur Politik, sondern sie prägen zunehmend die Politik selber, was freilich zu Lasten der Solidität und Nachhaltigkeit politischer Entscheidungen gehen kann.

Alle einschlägigen empirischen Studien und Umfragen zeigen: Wähler wollen anhand von Sachinformationen entscheiden. Haben die TV-Duelle in diesem Sinne den Bedürfnissen der Bürger Rechnung getragen? Auf der einen Seite: Ja ! In der Regel lag nach unseren Erkenntnissen der Anteil an echten Sach-Informationen, die die Menschen via FAZ, SPIEGEL oder TAGESTHEMEN über die Pläne ihrer künftigen Volksvertreter erreichten, bei deutlich unter 50%. Die formale Inszenierung des Duells hat nun die Journalisten zu etwas gezwungen, was eigentlich ihr täglich Brot sein sollte: die Fernsehrunden von RTL/SAT.1 focussierten mit einem Anteil von 68.7% und ARD/ZDF sogar mit einem Anteil 71.5% aller zur Schau gestellten Informationen wesentlich stärker auf Fragen des Arbeitsmarkts, der Steuerpolitik, Bildung etc. Der Rest wurde Persönlichem und anderem gewidmet. Damit lagen die TV-Duelle sogar noch besser als die vorab durchgeführten Print-Duelle, bei denen der Anteil an Sachinformation bei BILD/BamS immerhin 63.8% erreichte, während SZ/WELT sich gerade einmal 53.6% aller gedruckte Worte um harte Politik drehte.

Auf der anderen Seite: Nein ! Denn das Reden über Arbeitslosigkeit ist im Zweifel zwar immer noch besser als ein Reden über Krawatten oder Haarfarben, aber der Wähler erwartet natürlich harte Fakten und konkrete Vorschläge. Und da boten die TV-Duelle herzlich wenig. Die Aussagen Stoibers waren in der ersten Runde nur zu 41.5% tatsächlich konkret. Bei ARD/ZDF konnte er den Wert auf 48% steigern, blieb damit aber immer noch erstaunlich unpräzise. Beim Kanzler lag der Wert beide Male unverändert bei 40,5% bzw. 41.3%. Schuld der Politiker? Sicherlich auch. Aber bei weitem noch unter diesen Werten lag der Präzisionsgrad der Fragen. Man könnte also kritisch gegenüber dem TV-Journalismus sagen: Wie man in den Wald hineinruft, schallt es auch wieder heraus.

Wird es bei nächster Gelegenheit zum erneuten TV-Duell kommen, wird sich das Format der personalisierten Pro/Contra-Debatte verbreiten, wie man es in Printmedien und bei lokalen Veranstaltungen bereits beobachten konnte? Die Vorbehalte der deutschen Parteien- und Koalitionsdemokratie gegen das Format, dargelegt in der „Causa Westerweille“, bleiben bestehen; auch fragt sich, ob ein Amtsinhaber dem Herausforderer erneut einer derartige Chance zur Aufmerksamkeitegewinnung eröffnen wird. Doch zu Beginn des zweiten „TV-Duells“ sagte Edmund Stoiber bereits voraus, das Format werde sich wohl auch in Deutschland etablieren. Sollte das der Fall sein, ist jedenfalls anzuraten – in Anlehnung an die amerikanische Commission on Presidential Debates – eine unabhängige „Kommission zu den Kanzlerdebatten“ ins Leben zu rufen, damit die Regularien und Modalitäten der Debatten nicht allein den Abmachungen zwischen Wahlkampfzentralen und Sendeanstalten überlassen bleiben. TV-Debatten von dieser Bedeutung dürfen weder reine Wahlkampfveranstaltungen sein noch als Politainment abgespult werden, sie dienen der in die Breite und Tiefe gehenden politischen Wähler-Bildung und sollten deshalb von einer neutralen Instanz ausgerichtet sein. Im übrigen sollte man, wie bei den „Presidential Debates“, deutlicher den Debattencharakter akzentuieren und Format-Alternativen (etwa „Townhall-Diskussionen“ mit Bürgerbeteiligung) einführen.

Die „Kanzlerdebatten“ müssen insgesamt dem Primat politischer Information und Wählerbildung gehorchen und dabei künftig ein breietes Medien-Setting ansteuern. In den kommenden Jahren werden vor allem politisch interessierte Jugendliche vom Fernsehen ins Internet wechseln. Die „Kommission zu den Kanzlerdebatten“ hat bereits die Ausweitung der medialen Reichweite angeregt; das zweite Duell wurde im Radio und im Internet übertragen, dort auch mit anderem Informationsmaterial vernetzt und kommentiert. Solche neuen Kommunikationsräume dienen eindeutig der Qualifizierung der Debatte. Und das Internet stellt nicht nur zusätzliche Inhalte und Hintergrundmaterialien bereit, es erlaubt auch eine von den Bürgern stärker selbst bestimmte politische Kommunikation. Das Medienereignis “TV-Duell” erhält damit mehr Nachhaltigkeit und Tiefgang.

Der Kommission gehörten 2002 an:

Bernd Gäbler, Adolf Grimme Institut, Marl
Dr. Lutz Hachmeister, Juryvorsitzender Deutscher Fernsehpreis
Prof. Christine Landfried, Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg
Prof. Claus Leggewie, Zentrum für Medien und Interaktivität der Universität Gießen
Roland Schatz, Medientenor, Institut für Medienanalysen Gmbh, Bonn

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