Rückblick: Kommission zum Kanzlerduell

4. September 2005

Wendepunkt im Wahlkampf

Unter Federführung des Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik hat eine unabhängige Kommission von Wissenschaftlern und Journalisten die Rituale und Wirkungen des TV-Duells zwischen Gerhard Schröder und Angela Merkel am 4. September 2005 im Berliner „Palais am Festungsgraben“ beobachtet und analysiert. Kooperationspartner waren der Deutschlandfunk und die „Zeit“. Orientiert an der amerikanischen „Commission on Presidential Debates“ war es Ziel der Veranstaltung, das Fernsehduell kritisch zu kommentieren und Empfehlungen für zukünftige Rededuelle auszusprechen. Der Kommission gehörten an: Bernd Gäbler (freier Publizist), Lutz Hachmeister (Direktor des IfM), Claus Leggewie (Professor für Politikwissenschaft, Universität Gießen), Richard Meng (Frankfurter Rundschau) und Elisabeth Niejahr (Die Zeit). Es folgt die zusammenfassende Bewertung der Kommission.

Das TV-Duell im Wahlkampf

Das Fernsehduell zwischen Kanzler Gerhard Schröder und der CDU-Kanzlerkandidatin Angela Merkel am 4. September 2005 hat sich als eine entscheidende Veranstaltung im Wahlkampf, wahrscheinlich sogar als wahlentscheidende TV-Show erwiesen. Dies belegen alle seriös erhobenen Daten über den Wandel im Meinungsklima und die Beurteilung der Bewerber um das Kanzleramt durch die Wähler. Im Vorfeld des TV-Duells war die Mehrheit der Politik-Experten davon ausgegangen, dass ein solches Duell, auch angesichts des weiten Abstands in den Umfragewerten zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb, nur moderate Veränderungen im Wählerbewusstsein zeitigen könnte. Tatsächlich stellte die Sendung aber einen deutlichen „turning point“ im Wahlkampf dar – was vorher schon ausgemacht schien, der Sieg Angela Merkels, wurde wieder infrage gestellt. Vor allem die Koalitionsfrage ist wieder völlig offen. Dies lag nicht nur an der telegenen Selbstinszenierung des sonoren Amtsinhabers, sondern auch in der Schubwirkung, die das Duell für die Thematisierung grundsätzlicher Entscheidungsfragen, vor allem in der Steuer- und Sozialpolitik hatte.

Die mediale Form des Fernsehduells schlägt auf den Inhalt der politischen Wahlentscheidung durch. Die Redeschlacht zwischen zwei Kontrahenten gehört zu den ältesten Inszenierungen der Politik, aber die „amerikanische“ Version überträgt das echte Personenduell einer Präsidialdemokratie auf eine Parteien- und Koalitionsdemokratie, die nur eine unechte Personalalternative zwischen zwei Kanzlerkandidaten erlaubt. Was wir am 4. September gesehen haben, war zunächst ein fiktionales Dokudrama des erwarteten Kanzlerabschieds, das allerdings reale Konsequenzen zeitigt. Der Ausgang des Duells – Sieg für Schröder – war eine selbst erfüllende Prophezeiung: Schröder hatte in Umfragen vor dem Duell bei der „Kanzlerfrage“ wieder die Nase vorn, folglich galt der „Medienkanzler“ als Duell-Favorit, folglich galt er auch schon nach 45 Minuten als Sieger, folglich zogen seine persönlichen Werte nach dem Duell (und der analogen Nachberichterstattung) an. Das wäre ohne Belang, wäre nicht auch die SPD plötzlich stärker gefragt gewesen und hätte sich nicht gut eine Woche vor der Wahl gezeigt, dass es Schwarz-Gelb an entscheidenden Prozenten fehlen könnte – ein gefundenes Fressen für eine Mediendemokratie, die – vor allem im Fernsehen – auf ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen hofft.

So konnte das TV-Duell tatsächlich unentschlossene Wähler mobilisieren und Themen für die letzte Wahlkampfphase setzen: Kirchhof als Risiko, unerwünschte amerikanische Verhältnisse, der Kanzler als Garant sozialer Gerechtigkeit und Friedenspolitik. Es mag also sein, dass das Duell die Koalitionsfrage mit entschieden hat zugunsten einer Großen Koalition; Gerhard Schröder geht sogar mit fröhlicher Hartnäckigkeit davon aus, als Kanzler weiterregieren zu können – was einer politischen Sensation gleichkäme. Der wirkliche parteipolitische Antagonismus: Eine Mehrheit links von der Union vs. Schwarz-Gelb, wurde abgebildet nur im „kleinen Duell“ zwischen Friedrich Merz und Oskar Lafontaine und stand auf Grund der „Unmöglichkeit“ einer Linkskoalition nicht zur Disposition der Wählerschaft. Das TV-Duell hat sich in seiner zweiten Auflage auf Grund der hohen Einschaltquote und des fokussierten Vor- und Nachinteresses als zentrales Wahlkampfformat etabliert. Seine Inszenierung obliegt in Deutschland dem Arrangement zwischen Parteizentralen und Sendern, eine unabhängige Einrichtung, die für die Regulierung, flankierende politische Bildung und den Input starker diskursiver und interaktiver Formate sorgte, ist offenbar nicht erwünscht.


Die Inszenierung des Formats

Im Vorfeld hatte sich Angela Merkel geweigert, in zwei Fernsehduellen gegen Gerhard Schröder anzutreten. Merkel und ihre Berater waren davon ausgegangen, dass der „sogenannte Medienkanzler“ (Patrick Bahners) Schröder seine rhetorischen und repräsentativen Fähigkeiten im Medium Fernsehen umso stärker ausspielen könnte, je länger er dort im direkten Vergleich mit seiner Herausforderin zu sehen sein würde.

Zunächst hatte Merkel sogar mit dem Gedanken gespielt, an TV-Duellen mit Schröder überhaupt nicht teilzunehmen. Dagegen hatten die SPD und der Kanzler, angesichts trister Umfragewerte, in der direkten Fernseh-Konfrontation mit der als unbeholfen geltenden und rednerisch nicht gerade hochbegabten CDU-Kandidatin, geradezu die einzige Chance gesehen, das Meinungsklima noch zu ändern – oder zumindest eine Wende einzuleiten. In den Verhandlungen mit den Chefredakteuren der vier führenden deutschen Fernsehsender kam es zu dem Kompromiss, ein TV-Duell von 90 Minuten Länge mit vier Moderatoren zu veranstalten. Es moderierten Sabine Christiansen (ARD), Maybrit Illner (ZDF), Peter Kloeppel (RTL) und Thomas Kausch (Sat.1). Glücklich waren die Sender mit dieser Lösung von vornherein nicht. Spötter sprachen angesichts der zeitgleichen Ausstrahlung des Duells auf vier Sendern von „Zuständen wie in Nordkorea“ oder von „Breschnew-TV“. Allerdings hatten die Fernseh-Verantwortlichen, ob von der öffentlich-rechtlichen oder von der privatkommerziellen Seite, auch nicht die Courage, unter diesen Bedingungen auf das TV-Duell zu verzichten. Man hätte sich auch auf die traditionelle Form der Debatte mit den Parteivorsitzenden beschränken können. Zudem waren bereits im Umfeld der Fernsehbegegnung Schröder/Merkel zahlreiche weitere „Duelle“ ausgestrahlt worden, mitunter durchaus erkenntnisträchtig, so zwischen dem „Linkspartei“-Protagonisten Oskar Lafontaine und dem CDU-Finanzexperten Friedrich Merz oder zwischen dem amtierenden Finanzminister Eichel und dem heimlichen Star des Wahlkampfs, dem Steuerreformer Paul Kirchhof. Angesichts der hohen Dichte an politischen Talkshows und weiteren analysierenden Sendungen vor dem Duell Schröder/Merkel blieb die (allerdings auch zuvor schon angedeutete) Annonce der Herausforderin, Kirchhof im Falle eines Wahlsiegs auch tatsächlich zum Finanzminister zu ernennen, beinahe die einzige inhaltlich verblüffende Aussage der Veranstaltung.

Ansonsten hakten die Moderatoren eher kleinteilig Themenkomplexe vornehmlich zur Energie- und Steuerpolitik ab. Mitunter versandete die Debatte in Berechnungsdetails, die üblicherweise auf Ministerialratsebene verhandelt werden. Offenkundig hatten aber beide Kandidaten vor, sich sehr konkret als Finanz- und Wirtschaftsexperten zu profilieren. Die Moderation war, bedingt auch durch die Überbesetzung mit vier Journalisten, sprunghaft und mitunter verkrampft originell, da sich jeder Moderator in der kurzen Zeit, die ihm zur Verfügung stand, zu profilieren suchte, dabei allerdings auch gelassen, souverän und sympathisch wirken wollte. Nach drei Fragen zur
Außenpolitik wurde abrupt wieder zu Energiefragen umgeschaltet, obwohl die Politiker sichtlich bereit waren, sich länger zur Außen- und Sicherheitspolitik zu äußern. So wirkte die Sendung statisch und provinziell, weniger bedingt durch Fehlleistungen der einzelnen Moderatoren, als durch die Vier-Sender-Konstellation. Aufgelockert wurde das Duell allenfalls durch rare süffisante Interventionen des Kanzlers Schröder. Visuell blieb die dominante Einstellung im Gedächtnis, in der die Herausforderin Merkel bei ihren Redebeiträgen von Schröder abschätzig, wie in einer Prüfungssituation, betrachtet wird. Schröder sei „in der Aura des Präzeptors“ aufgetreten, auch dann, „wenn er nichts sagte“, analysierte zutreffend die FAZ. In der umgekehrten Einstellung wirkte Merkel bei den Redebeiträgen Schröders häufig leicht beleidigt oder überpointiert belustigt. Es waren diese auditiven und visuellen Momente, die den Gesamteindruck der 90 Minuten bestimmten und zugeschriebene und vermutete Kompetenzwerte der Kandidaten verfestigten.

Der Medienkanzler und seine Herausforderin: Strategien der Darstellung

Offenkundig hatte Merkel eher die Strategie, „auf Unentschieden“ zu spielen – also vor allem, keinen Fehler zu machen und die zu erwartenden Angriffe Schröders abzuwehren, ohne selbst unbedingt Dominanz zu suchen. Bei Schröder dagegen war die Angriffslinie klar: Ausgangspunkt das Unionsprogramm und die darüber weit hinausgehenden Konzepte des Ministeranwärters Kirchhof. Schon schnell war klar, dass Merkel bei dieser Debattenstruktur das eigene Unionsprogramm kaum mehr positiv rüberbringen konnte. Ihre stärksten Argumente hatten immer wieder mit rot-grüner Negativ-Bilanz und mangelnder macht-politischer Perspektive zu tun. Diese inhaltliche Seite des TV-Duells bildete sozusagen aber nur die Folie für den audiovisuellen Gesamteindruck. Es geht nicht wirklich zuerst um Inhalte. Es geht mindestens genauso darum, wie sicher sich einer seiner Sache scheint – und da war die schauspielerische Leistung des Kanzlers angesichts des weiten Abstands in den Meinungsumfragen gewaltig. Und es geht im Vis-à-vis mit dem Gegenkandidaten um Souveränität im umfassenden Sinn. Schröders Performance deckte dabei mit Abstand ein weiteres politisch-kulturelles Spektrum ab als bei Merkel, die in Gestik und Mimik, aber auch vom Outfit her keinen offenen, einladenden Eindruck machte und auch sehr viel weniger persönliche Ausstrahlung hatte als etwa drei Tage später beim nächsten Rededuell vor dem Bundestag.

Der Medienkanzler hatte vor den TV-Kameras sein Heimspiel. Kurze Fragen, relativ kurze Antworten, kaum ein Nachbohren möglich. Er war vor allem an seiner eigenen inhaltlichen und personellen Schwachstelle, der fehlenden Zukunftsausstrahlung von Programm und Personalangebot bei Rot-Grün, kaum gefordert – weil die Strategie aufging, das Unionsprogramm zum Hauptthema zu machen. Altes Prinzip: Angriff ist die beste Verteidigung. Zumal dann, wenn die Fragestellungen zu diesem Angriff geradezu einladen.

Auffällig war dabei, dass er jeweils den nächsten inhaltlichen Schwerpunkt der Sendung (die Themenliste war ja vorher verabredet) schon vorab in eine Antwort zum vorangegangenen Thema einflocht und damit die Argumentationslinien vorprägte. Merkel andererseits half durch eigene Schwächen mit: Ihr Ausweichen bei der Frage nach Kritik an der Lage in den USA nach dem Hurrikan war offenkundig; die Tage später nachgeschobene Kritik an George W. Bushs Klimapolitik kam zu spät.

Schon seit Monaten hatten die Schröder-Berater darauf gesetzt, dass sich das Merkel-Bild in der Bevölkerung zum Negativen ändern werde, sobald man sie als künftige Kanzlerin wahrnimmt und nicht nur als Kandidatin. Das hatte sich bis zum Duell nicht bewahrheitet. Merkel freilich wurde da nun ein Stück weit Opfer ihres eigenen Versuchs, sich als künftige Kanzlerin darzustellen. Eine Gesprächssituation, in der – auch optisch übers TV-Bild – der
Kanzler als jemand erscheint, der souverän auf die Kandidatin herablächelt, bringt sie in eine unerwartet schwierige Kommunikationslage. Denn Merkel schien in dieser Gesprächssituation weniger authentisch als Schröder und das hat am Ende den hohen Abstand in den Sympathiewerten bewirkt.


Schröder, Merkel und ihre Parteien: Die Grenzen des Formats

Im Wahlkampf brauche jeder Politiker die Fähigkeit zur Selbsthypnose, hat Siegmar Gabriel kürzlich gesagt. Im Wahlkampf des Jahres 2005 gilt das vor allem für die SPD und im besonderen Maße für den Bundeskanzler: Es ist kaum möglich, sein Pensum an Wahlkampfauftritten mit Kraft und Leidenschaft zu bewältigen, ohne an den eigenen Sieg zu glauben. Das wiederum ist auch nicht leicht: Momentan sind kaum politische Konstellationen in Sicht, in denen Gerhard Schröder nach dem 18. September Bundeskanzler bleibt. Falls sich die Demoskopen nicht kolossal irren oder extreme Ereignisse oder Fehler der Union die Stimmung noch stärker ändern als bisher, dürfte das auch am Wahlabend so sein. Hält der SPD-Aufwärtstrend der vergangenen Tage weiter an, reicht es möglicherweise für eine Große Koalition mit der SPD als Juniorpartner. Aber auch in diesem Fall wäre Schröders Kanzlerschaft vorbei.

Aus diesem Grund ging es beim TV-Duell am vergangenen Sonntag nicht wirklich darum, ob Angela Merkel oder Gerhard Schröder die bessere Figur als Bundeskanzler macht. In Deutschland wählt das Volk eben keinen Regierungschef wie etwa in den Vereinigten Staaten, sondern Parteien. Und wer demnächst seine Stimme der SPD gibt, wählt deshalb noch lange nicht den Bundeskanzler. Er wählt vermutlich eine Sozialdemokratische Partei, die in der Opposition über ihre künftige Ausrichtung zwischen Linkspartei und Agenda-Fortsetzung ringt oder eben den kleineren Partner einer Großen Koalition. Für beides mag es gute Gründe geben – aber mit dem Auftritt des Bundeskanzlers im Fernsehduell hat beides nicht viel zu tun.

Das dürfte am Sonntag nicht allen Zuschauern klar gewesen sein, aber doch einem großen Teil. Das Duell war für dieses Publikum vor allem interessant, weil man sehen wollte, wie Merkel sich schlug: Würde sie in der direkten Konfrontation mit dem Fernsehkanzler bestehen können? Würden sich Versprecher wie die Brutto-Netto-Verwechslung oder die versehentliche Ankündigung einer Großen Koalition bei der Parlamentsdebatte zur Vertrauensfrage wiederholen?

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass viele professionelle Beobachter Merkels Auftritt mehr abgewinnen konnten als der gewöhnliche Zuschauer. Hätten die in Adlershof versammelten Journalisten abgestimmt, hätte wohl die Unionskandidatin gewonnen, nicht der Kanzler. Vermutlich liegt es daran, dass Angela Merkel besser als bei anderen Auftritten, aber gleichwohl weniger witzig, schlagfertig und präsent war als Gerhard Schröder. Merkel war gut – für ihre Verhältnisse. Mehr aber auch nicht. Insofern hielt das Duell auch eine kleine Lektion für den Teil der politischen Klasse bereit, der Politiker am liebsten am bereits bestehenden Image und an den etablierten Erwartungen misst.

Die Interpretatoren des Duells: Behauptungen und mögliche Wirkungen

Am Anfang stand Anne Will mit dem Mikrofon in der Hand draußen im Niemandsland, während sich hinter ihr ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender an einer Ü-Wagentür zu schaffen machte.
Dann fand das Ereignis statt, dem die meisten Befragten vor dem Stattfinden allenfalls geringe Wirkung zusprachen. Vorausgesetzt keiner der Kombattanten versage völlig, würden allenfalls einige wenige Prozentpunkte verschoben, höchstens ein paar Unentschlossene sich festlegen. Im krassen Gegensatz zu dieser unterstellten geringen Bedeutung steht der Aufwand. Insbesondere für die Fernsehsender wurde das „Duell“ zum politischen Superhypermega-Event. Die Resonanz von 21 Millionen Zuschauern (Marktanteil rund 60%) übertraf sogar die Zuschauerzahl beim Abschiedskampf von Henry Maske.

Kaum war das letzte Wort der brav gelernten Schluss-Statements verklungen, stürzte „die Meute“ (Herlinde Koelbl) nicht etwa auf die Kandidaten, sondern vor die allzu gern bereitgehaltenen Mikrofone und Kameras. Soviel wechselseitiges Sich-Befragen und Interviewen war selten. Journalisten fragen Journalisten. ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender hatte früh stolz erklärt, sein Sender habe exklusiv Alice Schwarzer verpflichtet. Prompt tat sie auf allen Kanälen kund, dass Duelle eigentlich Männersache seien. Die ARD hatte RTL den hauseigenen Quotengaranten Günther Jauch weggeschnappt, der in froher Runde den Neocon gab. Selbstverständlich wurde der unvermeidliche Experte für Körpersprache angeheuert, der hochkompetent Schröders Gefühlshand in der Hosentasche verortete. Die Frauenredakteurin beschied bescheiden, dass sie nicht für alle Frauen sprechen könne. Ein Kritiker sagte kritisch, beim „TV-Duell“ handele es sich um Personalisierung. Hellmuth Karasek wusste, dass Dr. Sauer, der Ehegatte der Kanzler-kandidatin zwei Söhne habe, sie sich also in Familiendingen sehr wohl auskenne. Jemand wusste, dass sie gegen das Namensrecht gestimmt habe, das ihr nun erlaube „Sauer“ nicht im Namen zu führen. Da überall gesendet worden war, musste auch überall nachbereitet werden. Selbst Sat.1-Anchorman Thomas Kausch, den auf dem eigenen Sender kaum jemand gesehen hatte, musste dann dort Auskunft geben, wie er sich denn gefühlt habe. Noch dramatischer verstand die ARD das Wiederauftauchen von Sabine Christiansen in der nach ihr benannten Sendung zu inszenieren. Sie war souverän genug, den Ball flach zu halten.

Zwischen der prognostizierten weitgehenden Wirkungslosigkeit des öffentlichen Streitgesprächs und dem medialen Aufwand tat sich eine Kluft auf, die von einer Heerschar von Interpretatoren fast ohne Zeitverzug aufgefüllt wurde. Stärker noch als im Jahr 2002 schien es, als schöbe sich eine ganze Schicht von Sprechern über die Wirklichkeit zwischen Bildschirm-Ereignis und dessen unmittelbare Basiswirkung. Es waren Berater, Ehemalige, Print-Journalisten, die sich gerne auch im Fernsehen zeigen. Ihr Reden folgte Gesetzen, die sie in reflektierenden Artikeln nicht selten kritisieren. Gefragt waren Schnelligkeit, Eindeutigkeit und Originalität. Wer vorn dabei sein wollte, musste ganz schnell über ein fertiges Urteil verfügen; klar, definitiv und pointiert bis an die Grenze zum Absurden seinen Sieger ausrufen. Vorneweg war da der TV-omnipräsente „stern“-Deuter Hans-Ulrich Jörges, der für Angela Merkel nur ein Adjektiv gelten ließ: „brillant“.

Viele aus der Priesterschaft der Interpretatoren blickten auf das Geschehen durch eine Brille, die sie sich zuvor selbst gebastelt hatten. Nüchterne Abwägungen über Leistungen und Versagen der rot-grünen Regierung waren selten geworden. Schröder, bewundert als Fernsehkönner, war inhaltlich „abgeschrieben“. Viele der Berliner Szeneangehörigen bereiten sich vor auf eine Regentschaft Angela Merkels, hatten sie aber zuvor so beschrieben als sei sie bei öffentlichen Auftritten allenfalls fähig zu stammeln. Aus dieser speziellen Sicht ergab sich, dass die üppige Nachbereitung keineswegs zu einer Rückbindung an die gesellschaftliche Wirklichkeit, zu größerer Bodenständigkeit bei Beschreibung und Urteils-bildung führte, sondern erst recht eine sehr selbstständige, ja abgehobene Sphäre der medialen Wahrheiten entstand, ein wildes „Scheppern in der Käseglocke“ (Kurt Kister).

Spürbar wurden dabei auch journalistische Illusionen. Das auf Parteitagen gerne benutzte Monitum, dass nur begeistern könne, wer von sich selbst begeistert sei, scheint für viele der vor die Kameras strebenden Journalisten im Übermaß zu gelten. Weniger verbreitet ist ein Gespür dafür, dass es auch in der Ökonomie der Aufmerksamkeit Inflation gibt. Es sind immer die gleichen, überall. Sie wollen die Welt bewegen und bewegen Berge von Papier.

So blieb als Fühler in die Wirklichkeit nur die Demoskopie. Wie nie zuvor tat sich eine Diskrepanz auf zwischen den Urteilen der professionellen Beobachter und dem der Zuschauer und Wähler. Sahen die „Profis“ – nach dem Motto: „Außenseiter-Spitzenreiter“ – fast durchgängig Angela Merkel als Siegerin oder zumindest in mildem Licht, empfanden die Zuschauer, dass Gerhard Schröder klar vorne lag, weil er das Maß des Kanzler-Seins vorgab, an dem sich die Kandidatin rieb. Vielen Profis war das wohl zu selbstverständlich.

Zwei bis drei Prozentpunkte Auftrieb für die SPD aber könnten diese weiterhin mitregieren lassen. Eine ähnlich große Diskrepanz zwischen veröffentlichter Meinung und demoskopischen Ergebnissen hat Clintons früherer Wahlkampfberater Dick Morris beschrieben. Als die „Lewinsky-Affäre“ in allen Medien breitgetreten wurde, blieben Clintons Sympathiewerte stabil.

Diese sichtbar gewordene Kluft ermahnt geradezu, die weitere Verselbstständigung des Medienhypes einzudämmen. Zwischen Bildschirm und private Wohnzimmercouch passt mehr als die Schicht der Interpretatoren. In Schulen, Hochschulen und Volkshochschulen könnten tausende von „watch-groups“ zusammenkommen. Sie könnten vorbereitet sein. Zu allen sachlichen Fragen von der Zusammensetzung des Benzinpreises bis zum Rechtsanspruch auf Kindergartenplätze könnten sofort Recherche-Gruppen ihre Ergebnisse ins Netz stellen. Eindrücke und Meinungen – nicht nur der Berliner Sinngebungs-Elite – könnten breit ausgetauscht werden. Mit einem Wort: diese mediale Form des demokratischen Gesprächs muss nicht nur mittels -skopie stärker rückgebunden werden an den demos. Die Journalisten haben die TV-Duelle nur verschieden interpretiert – es kommt darauf an, sie zu verändern.

Berlin, 9. September 2005
gez. Bernd Gäbler, Dr. Lutz Hachmeister, Prof. Dr. Claus Leggewie, Dr. Richard Meng, Elisabeth Niejahr

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