M100 über den Neustart der Medienordnung nach Covid-19

NEUSTART: Shaping the Post-Covid Media Order“ lautete der Titel der am 17.9. in Kooperation mit dem IfM stattfindenden internationalen Medienkonferenz M100 Sanssouci Colloquium. Erstmals fand das hochkarätige Forum digital statt. Rund 100 Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und Politiker*innen aus ganz Europa waren virtuell zusammengeschaltet, um – moderiert von IfM-Direktor und M100-Beirat Leonard Novy, die Medienordnung nach Covid-19 zu diskutieren. Die Eröffnungsrede hielt Timothy Garton Ash, Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford. Entlang der Dimensionen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft wurde in parallel stattfindenden, exklusiven Roundtable-Diskussionen darüber debattiert, wie Europas Medienlandschaft Herausforderungen wie Fake News, der Dominanz großer Plattformen, Finanzierungsschwierigkeiten und gesellschaftlicher Polarisierung begegnen und sich zukunftsfest aufstellen kann.

Zu den Referenten zählten u.a. Neera Tanden, Präsidentin des Center for American Progress, Jim Egan, CEO von BBC Global News sowie der Politikwissenschafler und Buchautor Yascha Mounk. In der finalen Plenardiskussion „The Path Ahead“, eingeleitet durch einen Impuls des US-amerikanischen Aktivisten Cory Doctorow, wurden die strategischen Implikationen aller Roundtable schließlich zusammengetragen. Ein Ergebnis der Debatte: Angesichts der durch die Folgen der Corona-Pandemie verschärften Krise des Journalismus befindet sich Europas Medienordnung heute an einer Wegscheide: „Als demokratische Gesellschaften müssen wir uns heute Gedanken darüber machen, in welcher Öffentlichkeit, mit welcher Medienlandschaft wir eigentlich leben wollen“, sagte Leonard Novy zum Abschluss. Ihre digitale Zukunft könnten die EU-Mitgliedsstaaten nur gemeinsam gestalten

Mit der festlichen Verleihung des M100 Media Award an den ungarischen Journalisten und ehemaligen index.hu-Chefredakteur Sczabols Dull im Raffaelsaal des Orangerieschlosses in Potsdam ging die Veranstaltung zu Ende. Szabolcs Dull wurde mit dem Preis für sein Eintreten für Medienfreiheit und unabhängigen Journalismus ausgezeichnet. Der M100-Beirat, dem auch IfM-Direktor Leonard Novy angehört, solidarisiert sich damit ausdrücklich mit dem 36-jährigen Journalisten, seinem Eintreten für das Grundrecht der Pressefreiheit und seinen Kampf gegen außerredaktionelle Einmischung. 
In ihrer Eröffnungsrede äußerte sich die Vizepräsidentin der EU-Kommission Věra Jourová besorgt über Angriffe auf Medien, die nicht nur deren Freiheit einschränken, sondern im Ergebnis auch die Demokratie eines Landes schwächen. Gleichzeitig kündigte sie bis zum Ende des Jahres eine Reihe von EU-Initiativen an, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und die Medien stärken sollen. Dieser historischer Wiederherstellungsplan soll explizit auch die Medienindustrie unterstützen und dabei ihre Unabhängigkeit umfänglich respektieren.

Leonard Novy unterstrich in seiner Zusammenfassung der Konferenzergebnisse: Öffentlichkeit und Informationsarchitekturen in Europa seien längst nicht mehr nur Thema für Fachpolitik und Philosophieseminare, sondern eine alle angehende demokratie- und industriepolitische Zukunftsfrage. „Was es bedeutet, wenn Gesellschaften die gemeinsame Wissensbasis abhanden kommt – und die Fähigkeit, diese zu verhandeln – das zeigt der laufende US-Wahlkampf. Wohin wegbrechende journalistische Strukturen und sich über ganze Regionen erstreckende „Nachrichtenwüsten“, wohin Fake News, Hassrede und Demokratie-Hacking auch diesseits des Atlantiks führen können – das ist Stoff für einen Horrorfilm, der Wirklichkeit werden könnte.“
Die politische Hauptrede des Abends hielt Finanzminister und Vize-Kanzler Olaf Scholz. Er unterstrich, dass Wahrheit auf Fakten basiere und darauf, Fakten, Gewissheiten und Gerüchte auseinanderzuhalten. Journalisten und ihre Arbeit seien notwendig, damit sich eine gemeinsame Wahrnehmung von Fakten in der Öffentlichkeit entfalten kann. Umso wichtiger sei es, diejenigen zu ehren, die sich mutig dafür einsetzen. Demokratie brauche Öffentlichkeit, öffentliche Debatten und zugängliche Fakten. Freiheit in einer Gesellschaft sei nicht nur eine Mehrheitsherrschaft, sondern ein Recht, das Minderheiten und Vielfalt schützt. „Ein freier, guter und an Fakten orientierter Journalismus ist damit in jedem Fall systemrelevant“.

Die Menschenrechtskommissarin des Europarats Dunja Mijatovic hob in ihrer Laudatio die Bedeutung eines unabhängigen Journalismus hervor: „Jedesmal, wenn die Unabhängigkeit von Journalisten untergraben wird, wird die Demokratie unterspült. Das Level an Freiheit und Pluralismus, das Journalisten genießen, ist ein Lackmustest für den Zustand einer Demokratie. Leider besteht Ungarn diesen Test nicht. Deshalb müssen wir uns für eine Seite entscheiden. Wir müssen aufstehen, um Journalisten wie Sie, Szabolcs, von unangemessener Einmischung schützen. Wir müssen uns entscheiden, durchzuhalten und denjenigen in Ungarn zu helfen, die versuchen, Demokratie und Verantwortung zu stärken. Wir müssen unsere Anstrengungen vergrößern, um wieder mediale Diversität und Pluralismus zu etablieren.“

In seiner Dankesrede betonte Szabolcs Dull, dass er den M100 Media Award mit all seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern teilen möchte, die sich mit ihm für eine freie Presse eingesetzt haben. Die Mehrheit des 90-köpfigen Newsrooms habe gekündigt und damit bewiesen, dass sie keine faulen Kompromisse eingingen und nicht unter externem Druck arbeiten. Er habe Ihnen zugerufen: „Lasst uns nicht schweigen. Lasst uns nicht über unsere Geschichte schweigen, lasst uns nicht über unsere Prinzipien und die Wahrheit schweigen, und lasst uns niemals darüber schweigen, was in Ungarn, in Europa und in der Welt passiert. Denn das ist Pressefreiheit: So vielen Menschen wie möglich genau das zu erzählen, was in der Welt geschieht.“ Was bei Index geschehen sei, betreffe uns alle: „Für eine freie und unabhängige Presse aufzustehen, hat nicht allein mit Ungarn zu tun, sondern betrifft unsere gemeinsamen europäischen Werte. Unsere Geschichte ist ein europäisches Anliegen.“

Im Rahmen der Preisverleihung fand erstmals auch eine Paneldiskussion zum Thema “The end of World as we know it?“ statt. Vizekanzler Olaf Scholz, die russisch-US-amerikanischen Autorin Masha Gessen, die Direktorin von SVT in Schweden Hanna Stjärne, die ehemalige Piraten-Politikerin Marina Weisband und der Autor John Kampfner debattierten über Medien und Demokratie in Zeiten der Pandemie.


M100 Young European Journalists
Im Rahmen des M100 Young European Journalists Workshops wurden im Vorfeld der Konferenz Szenarien für die europäische Medienlandschaft 2030 entwickelt. Was muss geschehen, damit wir 2030 in Europa pluralistische, resiliente Informationsökosysteme und starke, unabhängige Medien haben?